Fachartikel zum Thema queere Bildung für Fachpublikum und Pädagog*innen. Gemeinsam mit Ammo Recla. Erschienen 2015 in: Huch/Lücke (Hg.): Sexuelle Vielfalt im Handlungsfeld Schule.
Konstruktiv Dekonstruktiv – Ansätze einer queeren Bildungsarbeit
Wie können Ansätze queerer Bildungsarbeit aussehen? Hat das etwas mit Schwulen und Lesben zu tun? Mit Dekonstruktion? Kann denn aus einer dekonstruktiven Weltsicht eine konstruktive Bildungsarbeit erwachsen? Und wie geht das praktisch, ohne dass Pädagog_innen mit einem entnervten „Was denn noch alles?“ das Handtuch werfen?
Diese Fragen sollen hier aus der Perspektive und Erfahrung des Berliner Bildungsträgers ABqueer e.V. erörtert und soweit wie möglich auch beantwortet werden.
ABqueer ist ein Berliner Verein, der seit 2005 queere Bildungsarbeit anbietet, weiterentwickelt und immer wieder kritisch hinterfragt. Wir führen Bildungsveranstaltungen zu Geschlecht und Sexualität durch, mit Schwerpunkt lesbische, schwule, bisexuelle, transgeschlechtliche, intergeschlechtliche und queere (kurz: lgbtiq) Lebensweisen. In einem unserer Projekte, dem Aufklärungsprojekt, arbeiten junge lgbtiq Freiwillige mit Schüler_innen. Teach out, ein anderes unserer Projekte, bietet Fortbildungen und Beratungen für Lehrer_innen, Referendar_innen und andere Pädagog_innen an. Das Aufklärungsprojekt wird oft eingeladen, wenn es in Schulen oder Jugendprojekten konkrete Probleme gibt. Dann heißt es zum Beispiel: „Erklären Sie denen mal was zu Schwulen und Lesben, damit die nicht immer schwule Sau sagen und aufhören, den Tobias zu mobben.“ Das sind wichtige und aktuell brennende Themen, die sichtbar machen, welcher alltäglichen Gewalt Queerness in unserer Gesellschaft gegenüber steht. Das, was wir unter queerer Bildungsarbeit verstehen, geht jedoch über diese konkreten Anlässe hinaus. Daraus ergibt sich ein Spannungsfeld zwischen queerer Theoriebildung, unseren eigenen Ansprüchen und den Gegebenheiten der Praxis. Denn während queer beispielsweise auch die Begriffe schwul und lesbisch als Identitäten in Frage stellt, müssen sie im Klassenzimmer mitunter erst einmal hergestellt und verteidigt werden. Der vorliegende Text zeichnet dieses Spannungsfeld nach, indem er zunächst Grundlagen und Hintergründe queerer Theoriebildung erläutert, daraus Ziele und Ansätze einer queeren Bildungsarbeit ableitet und diese dann wieder zu den aktuellen Rahmenbedingungen ins Verhältnis setzt.
(…)
1.2 Kritik an Heteronormativität
Der Begriff „Heteronormativität“ wurde 1991 von Michael Warner geprägt (vgl. Warner 1991: 3) und wird seit Mitte der 1990er Jahre auch im deutschen Sprachraum verwendet. Heteronormativität benennt ein System von Werten, Normen und Verhaltensweisen, die dafür sorgen, dass Heterosexualität als normal und natürlich wahrgenommen wird, während lesbisches, schwules, bi- oder pansexuelles Begehren als „Abweichung“ gekennzeichnet und ausgegrenzt wird.
Heteronormativität basiert auf dem System der Zweigeschlechtlichkeit: Wenn es nur Frauen und Männer gibt, die als grundverschieden gedacht werden, dann lässt sich heterosexuelles Begehren als gegenseitige Anziehung und Ergänzung von Gegensätzen konstruieren. Dabei bestimmt Heteronormativität auch, welche Formen von Beziehungen, Liebe, Begehren und Verwandtschaft gesellschaftlich vorstellbar sind (Vgl. Genschel u.a. 2001, S. 168). Dieser Punkt trifft in Seminaren von ABqueer häufig auf Unverständnis. Ist denn nicht wenigstens heterosexuelle Liebe frei und individuell gestaltbar? Die Antwort lautet dann: Nein, auch heterosexuelle Beziehungen sind gesellschaftlich stark normiert. So beinhaltet Heteronormativität unter anderem auch:
• Normen über akzeptierte Formen von Beziehungen (entweder Freundschaft oder Liebe),
• Normen über akzeptierte Formen von Sexualität (zu zweit, nicht zu dritt, Penetration von Mann zu Frau, nicht umgekehrt),
• Vorstellungen über Sexualität als Grundbedürfnis und darüber, was überhaupt als Sexualität gilt (Telefonsex ja, „Petting“ nein),
• Normen über Treue (sexuelle Treue in „Liebesbeziehungen“, emotionale Treue in „Freundschaften“, aber nicht in allen),
• Normen über begehrenswerte Körper, über Beziehungen zwischen Weißen und Schwarzen/PoC, über die Privatheit oder Öffentlichkeit von Sexualität und vieles mehr.
Wenn queer Heteronormativität kritisiert, ist also nicht nur der Zwang zur Heterosexualität gemeint, sondern die Art und Weise, wie Beziehungen gesellschaftlich reglementiert und beeinflusst werden. Warum sollen wir mit unserer_unserem Geliebten wohnen, statt mit unseren besten Freund_innen? Warum soll es beim Sex immer um Penetration und Orgasmus gehen? Warum gehört die Schwiegerfamilie zur Familie, nicht aber die Familie eines Kindergartenkumpels? Warum können drei Personen nicht heiraten? Warum wird Menschen mit Beeinträchtigungen ein eigenes Begehren abgesprochen? Warum gelten ihre Körper oft als nicht begehrenswert? Warum müssen sich Jugendliche verlieben, Menschen über 60 aber nicht? Und warum ist es beim gemischten Paartanz nahezu undenkbar, dass eine Frau führt? (…)
vollständiger Text in: Sarah Huch, Martin Lücke (Hg.): Sexuelle Vielfalt im Handlungsfeld Schule. Bielefeld 2015, S. 275-289.